Migration und psychische Erkrankungen

Protokoll vom 20. Mai 2015

Einstieg – Frau Dangel: Heute ist das Thema: Migration und psychische Erkrankung.

Zunächst wird der Gast, Herr Chizari gebeten, sich vorzustellenden:

Ich arbeitet im SPKoM, Sozialpsychiatrisches Kompetenzzentrum Migration des LVR. Mein Büro befindet sich in Stolberg. Meine Aufgaben sind u. a., die Erfahrungen in der psychiatrischen Arbeit von Menschen mit Migrationshintergrund zu bündeln, zu koordinieren und zu vernetzten, besonders die Dienste der unterschiedlichen psychiatrischen Einrichtungen, z. b. der SPZs. Ich arbeite mit unterschiedlichen Institutionen und kulturellen und religiösen Organisationen zusammen, qualifiziere Mitarbeiter / innen, erstelle Informationsmaterial und vieles mehr. Von Beruf bin ich Diplom – Sozialpädagoge. Ich komme aus Persien.

Nun möchten wir herausfinden, welche Erfahrungen Sie mit psychischen Erkrankungen hier und / oder in ihrem Heimatland gemacht haben. Dies kann auch ihre Angehörigen betreffen. Wir möchten auch erfahren, wie die psychiatrische Versorgung in verschiedenen Ländern aussieht.

Es entsteht eine Diskussion mit folgenden Inhalten:

  • Ich habe mit einem niedergelassenen Psychiater aus dem russischsprachigen Raum die Erfahrung gemacht, dass dieser mir eine andere Sichtweise meiner Erkrankung (Psychose) vermitteln konnte. Der Fokus lag auf meinen Erfahrungen und Eigenschaften sowie Fähigkeiten, nicht auf meinen Defiziten.
  • Ich arbeite seit 25 Jahren mit Kindern mit Migrationshintergrund (auch von Flüchtlingsfamilien). Noch nie wurde in dieser Zeit seitens der Eltern über psychische Erkrankung gesprochen. Ein Problem stellt sicherlich die Sprache dar, da die Kinder kein Deutsch sprechen und die Eltern auch nicht. So können mögliche Beschwerden gar nicht geäußert werden.
  • Es wird festgestellt, dass hier in dieser Region keine Selbsthilfegruppe speziell von Migranten für Migranten bekannt ist.
  • Vermutet wird, dass Menschen mit Migrationshintergrund in ihren religiösen Gruppen oftmals sehr geschlossen sind und sich nicht leicht psychiatrischen Hilfsangeboten öffnen können. Als Beispiel wird von einer Verwandten berichtet, die mit drei Mädchen aus dem Krieg geflüchtet ist und dort massivste Form der Gewalt erlebt hat. Ein tragischer Unfall führte später hier in Deutschland zu Tod der Mädchen. Halt fand die Angehörige bei den Zeugen Jehovas. Eine Verarbeitung ihres Traumas hat nie stattgefunden.
  • Es fehlt oftmals persönlich die Erkenntnis darüber, dass eine psychische Erkrankung vorliegt. Es zeigt sich, dass Menschen ablehnend reagieren und mit bestimmten Verhalten nicht umgehen können. Erkrankte müssen sich hier in Deutschland erklären und von Behörde zu Behörde laufen. Niemand sagt, was konkret zu tun ist. Im Heimatland reagieren die Menschen anders. Sie sagen, dass die Person zu viel im Leben gesehen hat. Dann muss sich die Familie mehr um den Betroffenen Angehörigen kümmern. Der Iman (religiöses Oberhaupt) sagt der Familie, was sie zu tun hat. Es gibt besonders im politischen und religiösen Kontext klare Vorgaben, die auch Sicherheit geben. So müssen sich Minderheiten z. B. unterordnen. In Deutschland ist das anders. Dort haben alle Menschen – auf dem Papier – die gleichen Voraussetzungen (Grundgesetz).
  • Flüchtlinge können in Deutschland eine Therapie bekommen, sobald sie einen geklärten Aufenthaltsstatus haben. Im Asylverfahren greift eine Notfallbehandlung. Das Asylverfahren kann allerdings sehr lange dauern (2-3 Jahre). Im Notfall können Therapien sowie BeWo während des Asylverfahrens über das Sozialamt beantragt werden. Das SPKoM kann hier im Einzelfall eine Erstberatung durchführen und / oder eine Vermittlung.
  • Bei Menschen, die Gewalt durch Kriegserlebnisse erfahren haben, zeigen sich oftmals auch Problem in der Erzeihung ihrer Kinder. Die Kinder leiden, Familienstrukturen können zerfallen, weil die Kinder sich von ihrer Familie entfernen. Manchmal finden erst in den nachfolgenden Generationen die Familien wieder zusammen. Die Kinder benötigen ebenso Hilfen wie die Erwachsenen.
  • Studien in Deutschland zeigen auf, dass der Prozentsatz von Deutschen und von Migranten bei psychischer Erkrankung gleich hoch ist. Ambulanten Hilfen werden von Migranten weniger angenommen als von Deutschen. Eine Ursache kann die Sichtweise bzw. die Erfahrung bzgl. der Psychiatrie im Heimatland sein. Am Beispiel Iran wird beschrieben, dass es dort nur geschlossene Psychiatrie gibt, die auch dezentral liegt. Psychische Erkrankung ist dort ein Tabu. In Ägypten entwickelt sich hingegen durch den politischen Umbruch eine Öffnung der Psychiatrie.

Pause

Nach der Pause erfolgt eine Diskussion zum Thema Familie. Ist sie förderlich bei psychischer Erkrankung oder verhindert sie den Genesungsprozess?

  • Bei muslemischen Familien haben Familienstrukturen einen hohen Stellenwert. Es gibt eine Verpflichtung gegenüber den Eltern, besonders bei Erkrankung. Es hat sich oftmals als hilfreich gezeigt, die Familie „mit ins Boot zu nehmen“. Dann zeigt sie sich engagiert und versteht die Abläufe und Zusammenhänge. Bei traditionell ausgerichteten Familien sind die Hilfen schwieriger zu installieren.

Es stellt sich die Frage, was der Einzelne tun kann, um zu helfen und ob bisher vorhandene Hilfen noch besser gebündelt werden müssen. Hierzu gibt es folgende Aussagen

  • Die Angehörigen sollen von Anfang an mit einbezogen werden
  • Die eigenen Erfahrung mit der Erkrankung sollen weiter gegeben werden
  • Hilfsangebote sollen deutlich gemacht werden
  • Vorurteile sollen weiter abgebaut werden

Welche Hilfen für seelisch belastete Migranten sind im heutigen Psychosesemianr bekannt, welche sind gut?

  • Familie als Unterstützung
  • Freundeskreis / soziales Netz
  • Selbsthilfegruppen (speziell für Migranten gibt es eine SHG im Rhein Erft Kreis für depressive türkische Männer)

Bzgl. der Selbsthilfegruppen für Migranten wird besprochen, dass hier Werbung hilfreich sein könnte. Das SPKoM und die Kette unterstützen Interessierte und vermitteln gerne an die Selbsthilfe – Kontaktstelle Düren.

Vorgestellt wird als neues Hilfsangebot das Projekt WEGBEGLEITER: Eine kleine Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund und Psychiatrieerfahrung möchte eine Begleitung für erkrankte Migranten anbieten. Unterstützt und begleitet wird die Gruppe vom SPZ der Kette e. V., Düren. Es stehen noch weitere Kooperationsgespräche an.

Aufgezählt werden zum Schluss weitere bestehende Hilfen für Migranten:

  • Gesundheitswegweiser für Migranten – im Kreishaus Düren
  • Medizinische Versorgung für Papierlose Migranten – Kreishaus Düren
  • Muslemisches Seelsorgentelefon – 030 / 443509821 (Berlin)
  • Portal zu Gesundheit – http://www.liga.nrw.de
  • Sprach und Integrationsmittlerpool – PÄZ Aachen (0241 / 4017779)
  • Zentrum für Sozial – und Migrationsberatung – ev. Gemeinde zu Düren
  • Information für Zugewanderte – http://www.integra-netz.de
  • Türkisch Islamische Union – Köln, psychosoziale Beratung

Als Themen für die 2te Jahreshälfte werden benannt:

  • Samt – Handschuhe? Patienten mit Rücksicht und Pflege oder auch mit Druck und Belehrung helfen?
  • Einführung als erster Termin (Was ist Psychose? Welche psychischen Erkrankungen gibt es?)

Ca. 20:30 Uhr

Abschlussrunde: Ein Stein wird in die Runde gegeben: Was hat Ihnen diese Veranstaltung gebracht (was nehmen Sie mit? Was lassen Sie hier?)

Bedanken bei der Seminargruppe (und dem Gast / den Gästen) – Hinweis auf das nächste Seminar am 17. Juni zu dem Thema „absetzen von Medikamenten, geht das gut?“. Alle weiteren Themen stehen auch auf der Homepage des Psychose – Seminars