Psychische Erkrankungen – lieber schweigen oder reden?

Protokoll des Psychoseseminars vom 21.12.2011 von 19.00 – 20:45 Uhr

Moderation und Protokoll: Frau Kinzel

Zunächst erfolgt die Begrüßung des Auditoriums und der Gäste: Herr Dr. Zwernemann (LVR-Klinik Düren) und Frau Van den Bos Nicolai (Seelsorgin der LVR-Klinik Düren)

1. Info: Aus dem Thema geht nicht eindeutig hervor, in welcher Situation geredet oder geschwiegen werden könnte.

Frage in die Runde: „An welche Situationen haben Sie gedacht, als Sie das Thema gelesen haben?

Folgende Situationen wurden benannt und an der Flip-Chart gesammelt:

  • Beim Arzt
  • Arbeitsplatz
    • beim Chef
    • enger Kollegenkreis
    • erweiterter Kollegenkreis
    • spezielle Situation – beim Vorstellungsgespräch
  • Nachbarschaft/soziales Umfeld
  • Familie
  • Freunde
  • Bekannte / neue Bekannte (z.B. beim Ausgehen)
  • Wann ist der richtige Zeitpunkt zu reden oder zu schweigen?

2. Haben Sie Beispiele aus Ihrem Leben, in denen es gut oder schlecht war zu reden oder aber zu schweigen?

Beim Arzt:

Eine Teilnehmerin berichtet, dass sie schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, ihrem Hausarzt, bei dem sie wegen ihres Rückenleides war zu sagen, dass sie eine psychische Erkrankung hat. Sie wurde, wie sie schilderte, von diesem direkt in „die Ecke alles psychisch/psychosomatisch bedingt geschoben“.

Hier erfolgten Einwände aus der Runde dahingehend, dass es sehr wesentlich sei, bei Arztbesuchen von der psychischen Erkrankung zu berichten, da es ansonsten bei Verschreiben von Medikamenten zu gefährlichen Wechselwirkungen der kombinierten Arzneimittel kommen könnte.

Ein weiterer Teilnehmer meint darauf hin, dass (für ihn) wenn keine Medikamente verschrieben werden keine Grund vorliege, die psychische Erkrankung anzugeben.

Hier ist ein weiterer Teilnehmer anderer Meinung – man solle es z.B. offen darlegen, wenn man Raucher sei. Auch hier können Wechselwirkungen zu Problemen führen (Glutamat – Problematik, der Spiegel kann sich verändern und in selten Fällen auch lebensbedrohlich sein.)

Herr Dr. Zwernemann äußerte, dass er die Gefahr, in eine „Psychosomatische-Schublade“ gesteckt zu werden nicht leugnen kann. Allerdings sieht er neben dem Aspekt der Wechselwirkungen bei unterschiedlichen Medikationen einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt; nämlich den, dass sich das Bild von psychischen Erkrankungen in der Öffentlichkeit nur verändern kann, wenn offener damit umgegangen wird (Antistigmatisierung).

Arbeitsplatz

  • beim Chef
  • enger Kollegenkreis
  • erweiterter Kollegenkreis
  • spezielle Situation – beim Vorstellungsgespräch

Hier berichtet eine Teilnehmerin, dass sie von ihrer damaligen Stellvertretenden Chefin den Tipp bekommen hat, ihre Krankmeldung über die psychische Erkrankung von ihrem Hausarzt ausstellen zu lassen, damit die leitende Chefin nicht ersehen könnte, dass sie von einem Facharzt für Psychiatrie krankgemeldet wurde.

Eine weitere Teilnehmerin erzählt, dass sie durchweg positive Erfahrungen sowohl im weiteren als auch engeren Kollegenkreis gemacht hat – sie sei immer offen mit ihrer Erkrankung umgegangen – sie hätte sie auch nicht verstecken können, weil es ihr doch hin und wieder nicht so gut ging – sie sei auf Verständnis gestoßen und man hätte darauf Rücksicht genommen.

Ein anderer Teilnehmer erwidert, dass es ihm ganz anders ergangen sei. Er sei damals aufgrund seiner psychischen Erkrankung entlassen worden. Jemand aus der Runde fragt: „Wären Sie denn noch gerne an einem solchen Arbeitsplatz geblieben?“ Der andere Teilnehmer antwortet: „Nein, aber ich hätte gerne eine Abfindung bekommen, die hätte mir zugestanden, aber ich konnte mich in meiner damaligen Verfassung leider nicht rechtlich wehren.“

Ein weiterer Teilnehmer hat mit seiner Offenheit seinem Chef gegenüber positive Erfahrungen gemacht, dieser hatte selbst einen „gebrochenen Lebenslauf“.

Beim Vorstellungsgespräch scheint die Meinung aller, die sich dazu im Seminar geäußert haben recht einheitlich zu sein:

Kommentare:

  • „Wenn ich Arbeitgeber wäre, würde ich bei gleicher Qualifikation etc. auch lieber eine „gesunde“ Person nehmen.
  • Unklug
  • Es macht keinen Unterschied, ob man eine psychische oder physische/ körperliche Erkrankung angibt – die Chancen, die Stelle zu bekommen, sinken dann in aller Regel
  • Evtl. später offen machen
  • Es kommt auf die Branche an – in manchen Arbeitsfeldern ist Kreativität und Einfallsreichtum gefordert

Nachbarschaft/soziales Umfeld

Teilnehmer: „Wenn ich gar nichts sage und irgendwas passiert (z.B. im Schub) sind die Leute weg – das ist dann wie ein Hammerschlag vor den Kopf für die.“ „Wenn ich aber vorher davon berichte, aufkläre, informiere – dann nimmt man die Leute mit.“ Sie bekommen eine Chance möglicherweise anders (verständnisvoller) zu reagieren. Dies sagt ein Teilnehmer, der schon relativ lange erkrankt ist und schon Zeit und Mut gefunden hat (für sich) konstruktiv mit der Erkrankung umzugehen.

„Viele Menschen können nicht damit umgehen, es ist vielleicht nicht böse gemeint.“

„Jeder Jeck ist anders“ (Jeder sollte so genommen werden, wie er ist.)

Familie

  • wird von einer Teilnehmerin als unterstützend geschildert
  • eine weitere Teilnehmerin berichtet, wie sehr es sie belastet hat (und scheinbar immer noch belastet) weder mit ihren Eltern noch mit ihren Schwestern in jungen Jahren über ihre Erkrankung sprechen zu können: „Ich habe immer den Clown gespielt“ – und damit ging es ihr immer schlechter, wenn sie so auf Aussagen wie „Du hast doch ein gutes Leben“ hat reagieren müssen.
  • Jemand anderer berichtet von Scham
  • Eine Angehörige berichtet davon, wie gut ihr das Reden in einer Beratungsstelle geholfen habe, dort reden zu können, Informationen und Aufklärung zu erfahren, auch in einer Angehörigengruppe – das gäbe ihr Mut. Man hat Möglichkeiten und kann etwas machen.
  • Als Angehörige hat eine Teilnehmerin schlechte Erfahrungen gemacht, als sie beim Arzt ihres Mannes etwas über sein familiäres Umfeld etc. beitragen wollte – sie sei eher auf Ablehnung gestoßen – Einwände: Nicht entmutigen lassen –es war einen Versuch wert – bei jemand anderes wäre es vielleicht sehr hilfreich gewesen.
  • Lt. Herrn Dr. Zwernemann gibt es leider noch immer ein großes Defizit an Informationen sowohl für Betroffene als auch für Angehörige. Es wäre sehr wichtig, Angebote wie Beratungsstellen, Angehörigengruppen, Gespräche mit Fachleuten wahrzunehmen – wenn man selbst oder auch die Angehörigen gut informiert sind, fällt häufig auch das Reden leichter – und es kann nicht mehr so viel in psychische Erkrankungen, deren Hintergründe und Ursachen etc. hineininterpretiert werden.
  • Wenn man zuviel weiß, sei es vielleicht auch nicht gut, wendet ein Teilnehmer ein… Das meint H. Dr. Zwernemann nicht: Er möchte als Arzt seinem Gegenüber bestmöglich helfen – je offener die Situation ist, umso besser kann Hilfe gelingen – ihm ist an einem Gespräch „auf Augenhöhe“ gelegen.

Freunde

Ein Teilnehmer sagt, dass er eine spezielle Art von Persönlichkeit hat und nicht darunter leidet. Er berichtet weiter, dass nach seinem Kenntnisstand 70-80% der Betroffenen die Psychosen als angenehm empfinden – hier taucht von anderen die Frage auf ob dies evtl. nur im ersten Moment der Psychose sei und wie es für die Angehörigen sei etc. Er erwidert, dass er für sich auf keinen Fall eine Fassade aufbauen möchte, authentisch sein möchte und meint, wenn er selbst mit seiner Erkrankung gut und offen umgehen könne, könne er das auch gut an andere weitergeben – den Mut – das Positive.

Zitat eines Teilnehmers: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich völlig ungeniert.“ Er brauche in seinem sozialen Umfeld nicht zu selektieren, das würden die Menschen um ihn herum schon von selbst machen.

Bekannte / neue Bekannte (z.B. beim Ausgehen)

Ein Teilnehmer hat die Erfahrung gemacht, dass „Depressive Themen“ Menschen eher abschrecken, wo hingegen z.B. Psychotische Schilderungen etwas „schillerndes“, „Horizont-erweiterndes“ zu haben scheinen.

„Mut zum Reden“ – „Man kann es trainieren“

Es wird von der Erfahrung berichtet, dass bei eigener Offenheit das Gegenüber auch erstaunlich oft offen reagiert und von eigenen Problemen, Erkrankungen oder Krankheiten in seinem engeren Umfeld erzählt.

Wenn jemand noch nicht so lange erkrankt ist, fällt es häufig schwer, offen damit umzugehen – geschweige denn, wenn noch keine Krankheitseinsicht besteht.

Wann ist der richtige Zeitpunkt zu reden oder zu schweigen?

Individuell und von Situation zu Situation unterschiedlich.

3. Können wir eine Regel finden, wann man schweigen, wann man reden soll?

Es gibt keine einheitliche Lösung, keinen Konsens. Es hängt von vielen Faktoren ab (Situation, Erfahrenheit vs. Unerfahrenheit mit der eigenen Erkrankung, bisherige positve vs. negative Erfahrungen, Mut, eigener Informationsstand, etc.) – wesentlich scheint zu sein, dass es dem einzelnen Menschen mit seiner jeweiligen Entscheidung, ob er redet oder schweigt gut geht.

Abschlussrunde – ein Stein wird in die Runde gegeben: Was hat Ihnen diese Veranstaltung gebracht? (Was nehmen Sie mit? Was lassen Sie hier?) Verabschiedung und Bedanken bei den Gästen.